Montag, 27. Januar 2014

"Homosexualität und ihre Feinde" - die Zeitschrift OSTEUROPA


OSTEUROPA
"Spektralanalyse - Homosexualität und ihre Feinde"
Rezension


Vom ersten positiven Coming-out-Roman Europas zum "Propaganda"-Verbot - Über die Geschichte und Lage von Lesben und Schwulen vor allem in Russland informiert die Ausgabe "Homosexualität und ihre Feinde" des Magazins "Osteuropa". Eine Rezension von Bodo Niendel.


Um es gleich vorweg zu sagen, dieses Büchlein ist eine Bereicherung und trägt zur Versachlichung der Debatte um die Homosexuellenfeindlichkeit in Osteuropa bei. Die Mehrzahl der Beiträge widmet sich der Situation in Russland. Der Historiker Dan Healey zeichnet die Situation sexueller Minderheiten nach. Ähnlich wie in anderen europäischen Staaten entwickelten sich auch in Russland ab etwa 1870 Formen homosexueller Subkulturen. Marginalisiert und zumeist auf St. Petersburg und auf Moskau beschränkt, trafen sich Schwule aber auch Lesben in Cafés, Parks und öffentlichen Plätzen und es kam zu gleichgeschlechtlichen Begegnungen in Toilettenanlagen.

Die patriachalen Verhältnisse diskriminierten diese Lebensweisen, jedoch wurde sie nicht strafrechtlich verfolgt, anders als in Deutschland. Entgegen so mancher linker Mythen stellte das Engagement Alexandra Kollontais für die sexuelle Befreiung in der Folge der Oktoberrevolution nur eine Randerscheinung dar.
Die Bolschewiki sahen in der Homosexualität einen "nicht zu tolerierenden Makel". Sie gingen mit Razzien gegen Treffpunkte vor, und so war es nur konsequent, dass 1933/1934 "Sodomie" zum Straftatbestand erklärt wurde. Sie galt als westlich, dekadent und Ausdruck kapitalistischer Verhältnisse.

Der mittlerweile verstorbene Igor Kon zeichnet anhand empirischer Erhebung seit 1990 die erschreckend negative Einstellung der Bevölkerung gegenüber Lesben und Schwulen nach und stellt eine ideologische Polarisierung fest, bei der sexuelle Minderheiten zur "unfreiwilligen Geisel einer neuen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen geworden" sind. Wenn der Grad der Homophobie der Lackmustest für eine Demokratie ist, so färbt sich das Lackmuspapier im Fall Russland schamrot, so Kon.

Politischer Kampf der orthodoxen Kirche

In der russischen Literatur kam Homosexualität zum Anfang des letzten Jahrhunderts zumeist nur am Rande oder kodiert vor, erläutert Ullrich Schmid in seinem Beitrag. Eine Ausnahme bildete der Roman "Kryl'ja" von Michail Kuzmin, der 1906 ein Boheme-Ideal einer homosexuellen Identität besang – "der erste europäische Coming-out-Roman mit glücklichem Ausgang", wie Dan Healey anmerkt. Im Kontext der repressiven russischen Sexualpolitik wagten LiteratInnen daran kaum noch anknüpfen. Diese Zeit wog nach und so ist Homosexualität in der russischen Literatur weiterhin eine Randerscheinung.

Ein Interview mit der russischstämmigen Berliner Aktivistin Zlata Bossina vom Verein Quarteera lässt düsteres erahnen. Sie berichtet von erschreckenden Fällen von Verfolgung und gar zwei Morden in der Folge des "Propaganda"-Gesetzes.

Erhellend ist der Beitrag von Konstantin Michajlov zur Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK). Er belegt, dass ihre zumeist ablehnende Haltung nur selten theologisch, dafür umso mehr politisch begründet ist. Das Putin-Regime stützt sich in seiner Begründung des Gesetzes gegen Homo-"Propaganda" auf die Positionen der ROK, auch weil es sonst kaum eine akzeptable zivilgesellschaftliche Gruppe gibt, auf die es sich stützen könnte. Natürlich gibt es innerhalb der Kirche auch Modernisierer und – oh, wer hätte es gedacht – innerhalb dieses Männerbundes auch unzählige versteckte Schwule.

Doch es fehlt der ROK an einer theologischen Debatte, wie sie andere Religionsgemeinschaften ausbildeten, da die Sowjetdiktatur diese rigoros unterband. So klammert sich die Kirche an die konservativen Positionen des Putin-Regimes und umgekehrt.

Ermutigung aus Polen und Tschechien

Tschechien ist anders gelagert, wie Franz Schindler darlegt. Bereits 1921 gab es in Prag den ersten sexualwissenschaftliche Lehrstuhl weltweit, der einen regen Austausch zum Berliner Privatinstitut des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld pflegte. Tschechien bzw. die Tschechoslowakei nahm eine sehr säkulare Entwicklung, und es bildete sich auch in der Zeit des Staatssozialismus eine sexuelle Liberalität heraus. Während der Zeit des großen Wandels, dem Fall des eisernen Vorhangs, spielten die Kirchen hier nicht die bremsende Rolle wie z.B. in Polen.

So verwundert es nicht, dass Tschechien als erstes osteuropäisches Land eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft im Parlament beschloss, für die überraschenderweise die Kommunistische Partei im Parlament immer geschlossen gestimmt hat.

Thomasz Kitlinski und Pawel Leszkowicz vermitteln Hoffnung. Polen galt unter der Ära der Kaczynski-Brüder als das homophobe Land Osteuropas par excellence. Doch nach dem Abgang der Brüder hat sich die Situation erheblich verändert. Zwar kann man nicht von einer ausgesprochenen Homofreundlichkeit sprechen, doch die krassen Zeiten sind vorbei und es hat sich in den letzten Jahren eine bedeutsame und sehr rege queere Kunst- und Kulturszene ausgebildet.

Diese wissenschaftliche Publikation ist nicht nur lesenswert, sie ist notwendig. Sie hilft vereinfachte West-/Ost-Schemata aufzubrechen und zeigt, dass sich Befreiungsmodelle und Ausdrucksformen wie Gay Prides nicht einfach exportieren lassen. Vor gerade einmal 20 Jahren wurde in Deutschland der Paragraf 175 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen, vor gerade einmal zehn Jahren in Großbritannien "Section 28", das Vorbild des "Propaganda"-Gesetzes. Wir sollten uns vor einem überheblichen Zeigefinger gen Osten hüten, stattdessen zuhören und unsere Brüder und Schwestern in ihrem eigenen und spezifischen Kampf fördern, wenn und so wie sie es wünschen.

Rezension zuerst veröffentlicht auf Queer.de
OSTEUROPA
Spektralanalyse
Homosexualität und ihre Feinde

Manfred Sapper, Volker Weichsel (Hg.)
Berlin (BWV) 2013 [= OSTEUROPA, 10/2013]
240 S., 67 Abb., 4 Karten
Preis: 20,00 €
ISBN: 978-3-8305-3180-7