Dienstag, 10. März 2015

Verlierer, Gewinner

"Gewinner und Verlierer. 
Beiträge zur Geschichte 
der Homosexualität in 
Deutschland  im 20. Jahrhundert"
Im Fokus: die neue Publikation in der Reihe "hirschfeld lectures"

Historikertage sind nur bedingt Teil der Wissensavantgarden. Was dort, der größten und wichtigsten Versammlung von in den Geschichtswissenschaften Arbeitenden, verhandelt wird, hat einen Prozess der Mühen zur Voraussetzung.

Themen, die auf einem Historikertag nicht verhandelt werden, sind nicht unwichtig, aber nicht Teil des wissenschaftlichen Mainstreams. Erstmals konnte in Göttingen im vorigen Herbst, auf dem 50., dem Jubiläumshistorikertag, eine Sektion zu Homosexualität vorgestellt werden.

Das war bemerkenswert genug, weil die Geschichte schwuler Männer (und lesbischer Frauen) zumal seit Ende des 19. Jahrhunderts auch eine der neuen Akteure in der bürgerlichen Öffentlichkeit war und ist.

In den gewöhnlichen geschichtswissenschaftlichen Kontexten sind Bezüglichkeiten zu Homosexualität und Homosexuellen (und anderen heteronormativen Formen des Sexuellen) rar – in den Standardwerken zur Geschichte des Nationalsozialismus, der Weimarer Republik, der jungen Bundesrepublik, der DDR und jenen zur jüngeren Vergangenheit bis in die siebziger Jahre existiert die Bewegung der Homosexuellen faktisch nicht oder nur am Rande.

Umso gewichtiger war, dass auf diesem Historikertag eine Sektion etabliert werden konnte. Nun ist, in der Reihe „hirschfeld-lectures“, die von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld herausgegeben wird, die Dokumentation dieses Panels erschienen.


„Gewinner und Verlierer. Beiträge zur Geschichte der Homosexualität in Deutschland im 20. Jahrhundert“ ist der von den Historikern Norman Domeier, Rainer Nicolaysen, Michael Schwartz und Martin Lücke sowie der Historikerin Maria Borowski mit Beiträgen gesättigte Band betitelt.

Diese Publikation gibt einen guten Überblick zum, wenn man so will, Stand der Dinge im Mainstream der Geschichtswissenschaften.

Michael Schwartz vom Institut für Zeitgeschichte in München schreibt zu den medialen Reaktionen im Prozess der Entkriminalisierung von Homosexualität zwischen 1969 und 1980.

Norman Domeier vom Historischen Institut der Uni Stuttgart befasst sich mit der deutschen Homosexuellenbewegung im Kaiserreich und ihre Niederlage im Eulenburg-Skandal (1906-1909).

Martin Lücke, Professor für Didaktik der Geschichte an der Freien Universität Berlin befasst sich mit männlichen Homosexualitäten während der Weimarer Republik – und skizziert diese Ära unter der Überschrift „Scheinerfolge und Emanzipationsstillstand“.

Maria Borowski, Studienrätin in Berlin und Promovendin am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin, widmet sich Schwulen und Lesben in der DDR.

Rainer Nicolaysen, Professor der Uni Hamburg und Leiter der Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte dortselbst, schreibt zur Aberkennung von Doktortiteln im „Dritten Reich“ – Homosexuelle Opfer der Hamburger Universität.

Das Bändchen, versehen mit einem Vorwort des Geschäftsführers der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, Jörg Litwinschuh, lohnt die Lektüre unbedingt.

Es ist – auch – das Dokument eines wissenschaftlich jetzt möglichen Aufbruchs in die akademische Landschaft, in den Mainstream der Disziplin.

Eine Fülle von Anschlussfragen an alle BeiträgerInnen ergeben sich von allein – gleichwohl gehören sie zur Wissenschaft selbst. Auf dem kommenden, dem 51. Historikertag in Hamburg wird aller Voraussicht nach abermals eine Sektion zu Homosexuellen angeboten werden können.
Jan Feddersen


„hirschfeld-lectures“
Gewinner und Verlierer. Beiträge zur Geschichte der Homosexualität in Deutschland im 20. Jahrhundert
Wallstein Verlag, Göttingen 2015
112 Seiten
9,90 Euro